Ich wurde 1991 im Winter in Hamburg geboren.
Nach einer schönen, von Geschichten, Reisen und ungehemmter Entwicklung geprägten Kindheit fand meine Schullaufbahn bereits in der 1. Klasse ihr frühes Ende, als ich aus ungeklärten Gründen auf einen Schrank in meinem Klassenzimmer kletterte und mich für den Rest des Tages weigerte wieder runterzukommen.
Für das, was ich damit ausdrücken wollte, sollten mir noch sehr viele Jahre lang die Worte fehlen.
Ich besuchte das Gymnasium, aber es war schnell absehbar, dass ich dort keine Zukunft haben würde. Man war schlicht zu genervt von mir und meinem renitenten und eigensinnigen Verhalten.
Und auch nachdem das Experiment mit der höheren Bildung für mich gescheitert war, wechselte ich immer mal wieder das Klassenzimmer und die Schule.
Ich denke, man kann rückwirkend sagen, dass ich nie so richtig von dem staubigen Klassenschrank runtergekommen bin. Ein Teil von mir sitzt wohl noch immer dort oben, zwischen längst vergessenen Tuschkästen und dem staubigen Stapel Fara-und-Fu-Fibeln.
Die Schulzeit ging vorüber und dann war sie wirklich endlich vorbei.
Aber als ich im Berufsinformationszentrum in die Suchmaske eines klobigen und summenden Computers „Magier“ eingab, lieferte mir diese Anfrage exakt 0 Ergebnisse.
Doch auf Dauer konnte ich mich nicht der Tatsache verweigern, dass auch ich hier von irgendwas leben muss.
Und so rollte ich mir noch ´nen krümeligen Joint, seufzte und machte mich das erste Mal auf den Weg, meine Haut auf den Marktplatz zu tragen.
Ich schleppte Zementsäcke um 5 Uhr 30, putzte Baumarktregale um 6, begradigte Rasenkanten ab 8 oder belegte gegen 17 Uhr pappige Brote in einer Croque-Bude.
Manchmal kündigte ich nach ein paar Wochen, manchmal schmissen sie mich raus.
Ich reiste ein wenig durch die Welt. Stand an der irischen Steilküste und blickte auf das tosende Meer. Saß über hektische Notizen gebeugt in einem Hotelzimmer in Barcelona und trank Whiskey. Hing mit ein paar Punks in Amsterdam an einem Kanal rum und lachte laut und böse.
Und dann kehrte ich zurück nach Hamburg, lehrte wieder Mülleimer aus und summte dabei aus dem Gedächtnis zusammengeschusterte Fetzen aus Les Misérables vor mich hin.
Hin und wieder brachte ich was zu Papier, und auch wenn es nichts taugte, dachte ich, es kommt irgendwie von Herzen.
Aber was war das bitte für ein Leben?
Ich raffte mich zusammen, stand auf und beschloss, Sozialarbeiter zu werden, statt weiter mit wildem Blick Les Misérables vor mich hin zu summen.
Da aber auf meinem Schrank keine entsprechenden Berechtigungsscheine für ein Studium ausgestellt werden, schien es nichts damit zu werden.
Irgendwann wurde mir klar, dass auch Erzieher in „Anstellung eines Sozialarbeiters“ arbeiten können, sofern sie sich dabei nicht allzu dämlich anstellen. Und so wurde ich Erzieher.
Meine Ausbildung habe ich an der Fachschule für Sozialpädagogik in Altona gemacht und am Ende bekam ich meinen Berechtigungsschein sogar mit Auszeichnung.
Das war 2015 und ich begann in einer Erstversorgungseinrichtung für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge am Stadtrand zu arbeiten.
Dort hielt ich es lange aus, so lange bis die meisten der Kolleginnen und Kollegen, die ich als menschlich und fachlich kompetent empfunden habe, kündigten, und dann verließ auch ich als eine der letzten Ratten völlig entkräftet und atemlos das sinkende Schiff.
Auch danach arbeitete ich weiter in Brennpunkten. Bis 2020 eine Diagnose mein Leben grundlegend veränderte.
Der gutartige Tumor in meinem Kopf wurde noch im Januar entfernt und ich gelte auf dem Papier als kuriert.
Jetzt ist es 2023 und es ist wieder Winter und “Abhanden” ist mein erster Roman.
LKH
Hamburg, 19.11.2023